Dienstag, 16. April 2013

Aus den Augen - aus dem Sinn?

Heute oute ich mich mal als bekennender Stephen-King-Fan. Nomen est Omen. Kein anderer Schriftsteller kann mich so in seinen Bann ziehen wie der KING. Er war, ist und bleibt wohl auch zukünftig für mich der Größte. Es sind nicht nur seine unheimlichen Geschichten, die mir das Blut in den Adern gerinnen und mich nicht eher das jeweilige Buch aus der Hand legen lassen, bis ich den allerletzten Satz verschlungen habe, auch wenn ich dafür so manche Nacht den Schlaf dafür opferte, um am nächsten Morgen total übermüdet meinen Dienst anzutreten .... nein, die von ihm verfassten, oft sehr wehmütigen Erzählungen rauben mir ebenso den Schlummer. Unterschied: Dann muss ich immer eine Packung Tempotaschentücher neben mir liegen haben, weil kein Auge trocken bleibt.

Gestern habe ich mir wieder den verfilmten Text von "Stand by me" angeschaut. Zum wie vielten Mal? Ich weiß es nicht. Obwohl ich jede Szene auswendig kenne und die Sätze der Protagonisten mitplappern kann, übermannte mich die Rührung und ich schluchzte unaufhörlich vor mich hin. Wie unnachahmlich King die Sehnsucht, die Wehmut, den Abschied vom Vertrauten einfangen und in die Seelen seiner Anhänger transportieren kann!

Lange, lange nach dem Ende des Streifens saß ich gedankenverloren im Sessel und starrte ins Leere. So deutlich wie nie zuvor hallte die Botschaft seiner Worte in meinem Innersten nach. Vier Freunde, die gemeinsam durch dick und dünn gehen, sich unbeschreiblich nahe sind, keine Geheimnisse voreinander haben, ja, sich, ohne mit der Wimper zu zucken, für die anderen aufopfern würden, werden nach dem Ende der Sommerferien getrennt. Getrennt? Lediglich, weil sie ab dem Zeitpunkt  andere Schulformen besuchen? Sie könnten doch weiterhin ihre Nachmittage zusammen verbringen, spielen, Abenteuer bestehen, sich gegenseitig ihre Siege und Niederlagen anvertrauen ... Nein, sie sehen sich ab und zu in den Pausen, geben  belanglose Worthülsen von sich. Und selbst diese werden seltener und seltener, bis man die ehemals besten Freunde nur noch als irgendwie bekannte Gesichter auf dem Schhulhof wahrnimmt. Ein zum Nachdenken anregender Schluss.

Was geschieht denn dann erst, wenn räumliche Trennungen erfolgen, man sich für Jahre aus den Augen verliert? Heißt es nicht in einem Volkslied: "Wahre Freundschaft soll nicht wanken, wenn sie gleich entfernet ist, lebet fort noch in Gedanken und der Treue nie vergisst."? Ich habe seit Kindertagen zwei Freundinnen, auf die das Lied zutrifft. Wenn wir uns mitunter kleine Ewigkeiten nicht gesehen haben und, aus welchem Anlass auch immer, besuchen, ist es wie früher. Das Band der Freundschaft hält allen Stürmen des Lebens stand. Es ist bei jedem Treffen sofort jene innige Vertrautheit von früher vorhanden. Nichts und niemand kann uns entfremden. Gut! Aber was ist mit den vielen anderen Freunden und Freundinnen, die eine nicht unerhebliche Strecke des Daseins gemeinsam mit mir gegangen sind, die mir einst lieb und teuer waren? Bei manchen muss ich mich anstrengen, mir ihre Gesichter vor Augen zu führen. Und was ist aus den Mitschülerinnen und Mitschülern der Grundschule geworden? Ich krame ein Klassenfoto vom Tag der Einschulung hervor, schaue mir jedes Kind genau an, überlege hin, grübele her. Die Hälfte der Namen vergessen, vom Wind der Zeiten verweht. Einige meiner damaligen Freundinnen sind längst tot. Meine beste Kindheitsfreundin starb mit achtundzwanzig, hinterließ eine zweijährige Tochter ...

Seltsam. Der Alltag ging weiter, die Bilder verblassten. Neue Freunde kamen dazu. "Freunde fürs Leben", nannten wir uns.Umzüge, berufliche Veränderungen, Todesfälle zerschnitten die Seile, die wir doch so fest geknüpft hatten, dass sie auf ewig halten sollten. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich meinen Grips anstrengen kann, bis in die hintersten Winkel durchforste, und mich trotzdem an manche nicht erinnere.

Mittlerweile gerate ich regelrecht in Panik wegen meiner Vergesslichkeit, suche in Alben, Kisten und Kästen nach Relikten, die Vergangenheit auferstehen zu lassen -  halte plötzlich eine DVD in Händen, die mir vor etlichen Jahren eine Tante aus den USA gebrannt hat. Mit der Schmalfilmkamera haben sie und ihr Ehemann seinerzeit den Familienfilm gedreht. Ich sehe mich mit meiner Schwester und meinen beiden Cousinen als kleine Kinder zwischen den Erwachsenen herumtoben, fühle mich glücklich im Kreise meiner Lieben und lehne mich entspannt zurück.
Und dann der Schock.
Alles Tote; durchzuckt es mich. Keiner der damals lachend in die Kamera winkenden Erwachsenen weilt mehr auf dieser Welt. Und ausgerechnet die Jüngste von uns vier Kindern hat ebenfalls bereits das Zeitliche gesegnet. Meine kleine Schwester wohnt im fremden Land, in Spanien. Nur eine einzige Cousine ist noch in der Nähe. Jede von uns hat so viel mit der jetzigen Famile zu tun, dass wir uns dennoch kaum sehen.  Ich schaudere. Nicht eine der unzähligen Gruselstories, die ich gelesen habe, ist derart gruselig wie die Wirklichkeit.
Ich versuche mich damit zu trösten, dass es sämtlichen Bewohnern unseres Planeten wie mir ergeht. That's life, denke ich, bevor mich Weinkrämpfe schütteln können, und verstaue die Überbleibsel des "Gestern" im Schrank. Den Film "Stand by me" ganz weit nach hinten. Rasch schalte ich NDR 2 ein, lausche der Musik und tatsächlich: Die Schatten der Vergangenheit ziehen sich diskret zurück.

Mir fällt der Spruch meines Opas ein und ich leiere ihn gebetsmühlenartig vor mich hin: "Aus den Augen, aus dem Sinn!"  




   

2 Kommentare:

  1. Aus den Augen, aus dem Sinn, sagt sich gern ganz schnell dahin. Doch nichts ist so wie es scheint. You are allways on my mind! Gute Nacht

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  2. Es sagt sich schnell dahin, stimmt. Aber manchmal kann man sich nicht anders schützen - wenn die Erinnerungen an verlorene Menschen zu stark werden, liebe/r Anonymus. I don't like, that they are always on my mind. It makes me crazy. I also know the song, wishing you will always be a very lucky person.

    Good night, my friend and beautyful dreams!

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